Skurriler Film? Fiktion?

Selbst erlebt!

Folgenden Text schieb ich an zwei Dezembertagen 1999. Er handelt vom Ausbruch meiner bipolaren Störung 1993 und den Erfahrungen in meinem ersten Klinikaufenthalt 1994. (Eine Hypomanie holte mir detailliert alle Einzeilheiten des damals schon 5 Jahre zurück liegenden Geschehens ins Gedächtnis und verlieh mir den Turbo, alles in Kürze zu notieren.)


CYCLONE oder Zwischen Himmel und Hölle

Der Ausbruch meines Erbgutes


Ludwig von Beethoven, Vincent Van Gogh, Ernnest Hemingway und ich haben eines gemeinsam. Was das ist, stellt Richard Gere in der Hollywood-Filmproduktion von 1992 „Mr. Jones“ gut nachvollziehbar dar. Er spielt einen Manisch-Depressiven, oder moderner ausgedrückt: einen Menschen mit einer angeborenen bipolaren Störung. Das wurde im Frühjahr 1994 auch bei mir diagnostiziert.

 

Beginn: die Depression

Meiner ersten großen Manie ging eine fast halbjährige Depres­sion voraus, in die ich fiel, als ich im Herbst 1993 an meinem ersten Diplomversuch verzweifelte. Mehr und mehr versank ich und schließlich ging es mir so schlecht, daß ich mich fast täglich umbringen wollte.


Weil ich nicht wußte, was mir fehlte, glaubte ich, dieser Zustand würde nie mehr ein Ende finden. Fast sechs Monate aß ich so gut wie nichts mehr, schaltete das Autoradio nicht mehr an, wünschte mir bei jeder Fahrt an einen Brückenpfeiler zu rasen, rauchte nicht mehr, litt Höllenqualen und war eine Zumutung für die Menschen, die mich liebten.


Mir war ständig kalt, ich wünschte mir, eine Katze zu sein oder ein Baby, ich wünschte mich zurück in den Mutterbauch und empfand es gerade noch am erträglichsten, in eine Wolldecke gewickelt regungslos vor dem Fernseher zu liegen, denn dem Fernsehprogramm gelang es manchmal, mich abzulenken. Ablenkung fand ich auch in mir bis dahin ungewohnten Dingen wie Schachspielen, Kreuzworträtsel lösen und Passagiere am Flughafen einzuchecken, denn meine Mutter nahm mich mit auf ihre Arbeit, nicht zuletzt, um mich vor mir selbst zu beschützen. In den schmalgeschnittenen Uniformrock passte ich ohne Probleme, denn ich hatte unbemerkt sehr viel Gewicht verloren, obwohl mir dies vorher immer eher schwer gefallen war.
Gut taten mir die Herbst- und Winterspaziergänge in freier Natur, zu denen mich meine Freunde zwangen. Sie mußten mich nur von Hochsitzen und Burgruinen mit begehbaren Türmen fernhalten. Einmal schrie ich all meine innere Hölle in den Wald hinein und erschrak selbst darüber, wie lange und wie laut ich schreien konnte. Sogar die Hunde im nächsten Tal fingen an zu bellen. 

 
Das einzige, worum meine Gedanken kreisten, und darum mein liebstes Gesprächsthema, waren die verschiedenen Möglich­keiten sich umzubringen. Im Skiurlaub mit meiner Familie wollte ich immer aus dem Sessellift springen, wurde aber nie aus den Augen gelassen. Besonders Carine, meine kleine Schwester kümmerte sich liebevoll und geduldig um mich und war mir nah. Es war verkehrte Welt: nun war sie die größere Schwester - in meinen Augen mutierte sie zu einem göttlichen Wesen. Obwohl es lichte, fast fröhliche Momente beim Skifahren gab, schmerzte es mich umso mehr, ausgerechnet in meinen früher immer so geliebten Bergen auf meinen früher immer so geliebten Brettern nicht die ekstatische Freude zu empfinden, die mich sonst im Skiurlaub immer überkommen hatte, sondern alles wie hinter einer dicken Eiswand wahrzunehmen. Den gleichen unsäglichen Schmerz empfand ich bei dem Flamen­cogastspiel der Familia Farruco, einem absoluten Highlight, das ich sogar verzweifelt zu fotografieren versuchte. Aber es ging einfach nichts an mich. Ich war abgetrennt von jedem Gefühl, abgetrennt von der Welt, vom Leben, scheintot. Da erschien mir, richtig tot zu sein allemal besser. Zurück aus dem Skiurlaub, fixierte ich mich auf zwei Möglichkeiten, mich umzubringen - entweder von einem Hochhaus zu springen, oder mich vor einen Zug zu werfen. Beides lag im Sinne des Wortes nah, denn die Züge fuhren hinter meinem Elternhaus, und dieses war wiederum von Hochhäusern umzingelt.


Am 4. Januar 1994 griff mich die Polizei im Wald auf und lud mich bei einem einfühlsamen Sozialarbeiter der Stadt ab, nachdem ein Waldspaziergänger gemeldet hatte, mich mit dem Hals auf den Gleisen liegen gesehen zu haben. Angesichts meiner sich auf alle Bereiche, so auch den, mir das Leben zu nehmen, ausdehnenden Unfähigkeit, wurden mein Selbsthass und meine Verzweiflung stetig größer und unerträglicher bis hin zu physischem Schmerz. Einmal brach ich in der Dusche zusammen und meine Mutter mußte mich waschen und abtrocknen wie ein Baby. Obwohl ihre Muttergefühle ihr erstaunliche Kräfte verliehen, war sie nicht immer so tapfer - so rissen ihr an einem anderen Tag die Nerven, sie schrie „Dann bring dich doch endlich um“, knallte die Tür zu und brach heulend zusammen. Daraufhin kam mein Vater in mein Zimmer gepoltert und schlug mir ins Gesicht. Ich hoffte er würde mich totschlagen oder aus meinem Däm­mer­zustand erwecken, denn obwohl mir das Leid meiner Mutter nahe gehen mußte, war dieses Gefühl bedeckt von Gleichgültigkeit und Taubheit.
 

Meine Schwester ermahnte mich streng, unsere Familie nicht zu zerstören - ich schämte mich und wollte erst recht nicht mehr am Leben sein. In der von meinen Qualen nichts ahnenden Öffentlichkeit verstellte ich mich, was mir fast den Verstand raubte, denn es teilte mich entzwei. Die Person, die von außen wahrgenommen wurde, war in Wirklichkeit eine billige, wie ein Roboter funktionierende Marionette, der mein wahres Ich ständig auf der Schulter saß, welches die Farce meines „Normal“-sein-Theaterspiels für die Außenwelt verurteilte, und das zutiefst, auf gehässigste Art und Weise und nur für mich hörbar.
In diesem Zustand der Zweigeteiltheit ließ mich meine Sehnsucht nach „Normalität“ in der ersten Märzwoche 1994 eine dreiwöchige Lufthansa-Check-in-Schulung beginnen, weil ich ja glaubte, eine Alternative zu meinem nun nicht abgeschlossenen Studium finden zu müssen. Die Schulung fand in einem externen Schulungszentrum statt, in dem während der Woche alle Teilnehmer wohnen sollten. Das bedeutete, daß ich, bis auf die Wochenenden, für drei Wochen kaum eine Pause von meinem gruseligen Doppelleben bekommen sollte.
Ich kam mir vor wie Dr. Jeckyll und Mrs. Hyde.


Eine in meiner Orientierungs- und Hilflosigkeit halbherzig begonnene Behand­lung mit Ludiomil-Infusionen hatte ich inzwischen schon abgebrochen, weil ich nicht daran glauben konnte, daß mir irgendetwas helfen könnte und eine besondere Skepsis gegen Psychopharmaka entwickelte. Als mir mein ahnungsloser Haus­arzt danach Fluctin bzw. Prozac, verschrieb, nahm ich es und begann mit der Schulung.
Während der ersten Zeit suchte ich noch regelmäßig heimlich die obersten Stockwerke auf und balancierte am Abgrund, wie immer, ohne den Absprung zu schaffen. Einem Kollegen vertraute ich mich auf sein Drängen hin an, nachdem ich mich zuvor im Schwimmbad des Schulungszentrums versehentlich leicht verraten hatte:
ER -„Spring doch ins Wasser!“ ICH - „Nein, ich kann’ eh’ nicht so gut schwimmen“ ER (flirtet) - „Dann rette ich Dich!“ ICH (aus Versehen?) - „...Und wenn ich das nicht will?...“ Daraufhin trafen wir uns auf dem Dorffriedhof und ich erzählte Bernd, daß ich mich schon seit fast einem halben Jahr umbringen wollte. Dann schlief ich mit ihm. Seltsamerweise funktionierte die ganze Zeit über mein Körper beim Sex, als habe er ein von meinem depressiven Ich unabhängiges Eigenleben - sowohl wenn ich mit meinem damaligen Freund Uwe, einem Flamencogitarristen, zusammen war, als auch mit meinem frisch eingeweihten Kollegen.

 

In der zweiten Schulungswoche  kam langsam wieder etwas mehr Leben in mich - so benutzte ich sogar das Solarium, weil mir der Slogan auf dem Aufkleber an der Kabinentür „Braune haben gute Laune“ irgendwie Hoffnung machte. Am Wochenende holte ich von zuhause mein Mountainbike, denn das Schulungszentrum war malerisch auf einem Berg im Odenwald gelegen, den ich früher schon mal gemeinsam mit meinem Vater auf dem Tandem erklommen hatte. Obwohl ich in der zweiten Woche noch an meiner Depression festhielt, traute ich mich schon in die hauseigene Disco und tanzte am Tag darauf sogar Flamenco für meine Kommilitonen, begleitet von Uwe, der schon seine Felle wegschwimmen sah und meiner bauch­tanzenden Freundin Shayma, mit der ich, als lebensbejahende Alternative zum Freitod schon seit einer Weile nach einer Wohnung suchte. Außer Bernd waren alle begeistert. Ihn, als meinen Mitwisser und Liebhaber, nahm das alles sehr mit.


Es ist nicht vorbei: die erste Manie

Am Freitag, den 18. März, dem Tag vor dem letzten Wochenende schließlich war es soweit. Einer meiner Kollegen zeigte nach draußen auf den obersten Stock des Gebäudes, an die Stelle, wo ich schon oft gestanden hatte und machte einen makaberen Scherz über einen anderen Kollegen der dort oben stünde um sich in die Tiefe zu stürzen, wenn er durch den Test gefallen wäre. Erschrocken und mit dem Gefühl des Ertappt-seins schaute ich hinaus und es durchfuhr mich: „Nie wieder. Es ist vorbei.“
 
Plötzlich und überraschend, dafür aber umso deutlicher wich mein Lebensüberdruß neuer ungekannter Freude. Ich fuhr in mein erstes manisches Wochenende. Anstatt, wie sonst, sogleich nachhause zu meinen besorgten Eltern zu fahren ging ich erst mal einkaufen. Zunächst beließ ich es dabei, mich neu einzukleiden, mir passten ja nun Lederhosen in Größe 36 und für meinen neuen Geliebten kaufte ich auch gleich ein paar Hemden mit ein. Mein Geld hatte sich ja fast ein halbes Jahr unangetastet auf meinem Konto vermehrt und darauf gewartet, von mir ausgegeben zu werden. Auf dem Heimweg fiel mir ein, daß ich mir doch mal eine der Wohnungen aus der Zeitung direkt ansehen könne und hielt spontan in der Karlstraße. Die Wohnung wurde gerade renoviert und stand offen. Durch Zufall traf ich auch gleich den Vermieter und signalisierte sofort mein Interesse.


Als ich schließlich nachhause kam, waren meine Eltern nicht da. Ich zog mich um, stylte mich und malte ein großes „Hurra, ich will nicht mehr sterben“-Plakat. Dann verabredete ich mich mit meiner Freundin Suse für abends in der Alten Oper zu einem Flamenco-Konzert von Amparo de Triana und telefonierte noch mit meinem soeben wieder frisch eingetroffenen Busenfreund Raphael aus New York. Dreierlei hatte ich mir als absolutes Ultimatum gesetzt, um entweder wieder lebensfroh oder endlich definitiv tot zu sein: Raphaels Ankunft, der Workshop von Concha Vargas in Mannheim und die blühenden Bäume des Frühlings.
Nun war Raphael im Lande, der Workshop stand kurz bevor und die Bäume schlugen aus. Im allerletzten Moment hatte ich es geschafft!
Wenn das kein Grund zur Freude war! Ich war dem Tod von der Schippe gesprungen, das war genug Rechtfertigung für meine nun grenzenlos überschäumende Freude!


Ich telefonierte gerade mit Onkel Peter, als mein Vater nichts­ahnend nachhause kam. Sofort bemerkte er erstaunt mein neues, gepflegtes und farbenfrohes Outfit - zu Hose und Weste aus schwarzem Wildleder trug ich eines der zwei gelben Seiden­hemden, die ich gekauft hatte. Da ich ja noch am Telefon war, hielt ich das gemalte Plakat hoch und dann folgte der bisher innigste und schönste Moment der Liebesbeziehung zwischen meinem Vater und mir: Er stürzte auf mich und umarmte mich mitsamt dem Telefonhörer so fest, daß ich kaum Luft holen konnte, weinte und sagte immer wieder: „Mein Kind, mein Kind!“ und „Ich wußte, daß Du es schaffst! Ich bin ja so glücklich!“ Allein für diesen Moment, den ich bis an mein Lebensende wie in einem Schatzkästchen mit mir herumtragen werde, hat sich alles gelohnt, was mir widerfahren war und noch kommen sollte... Auf Mama konnte ich nicht mehr warten, weil ich ja mit Suse verabredet war. Als ich sie traf, redete ich ununterbrochen und obwohl sie sich mit mir freute, kamen ihr doch als erstem Menschen Zweifel an der „Normalität“ meines Zustands. Nach dem Konzert traf ich noch Shayma im „Zigeunerbaron“, einem düstern Zigeunerswing-Lokal und Uwe im „Al Andaluz“, meinem angestammten Flamenco-Lokal, wo ich sogar in meiner Depression noch aufgetreten war. Ich hatte ein halbes Jahr nachzuholen, also traf ich das ganze Wochenende über viele Freunde und ging auf Partys. Jedes Mal outete ich mich vor allen Anwesenden und berichtete von meiner Wiedergeburt.


Während ich die ersten beiden Wochen lang im Schulungs­zentrum nicht sonderlich aufgefallen war, brachte ich am darauffolgenden Montag eine riesige, zum Platzen gefüllte Reise­tasche mit und war auch selbst außerordentlich bunt und kreativ gekleidet, vorallem im Vergleich zu vorher. Im Aufzug und den Gängen des Schulungszentrums verteilte ich Tulpen an alle Menschen, die mir über den Weg liefen, schließlich waren  Shayma und ich am Wochenende, dank Bürgschaft meiner Eltern als Mieterinnen der Wohnung in der Karlstraße angenommen worden. Mein Glück schien sich zu überschlagen. Weil zwei Männer mir nicht genug waren, begann ich noch eine Affäre mit Miguel-Angel, einem bolivianischen Schulungsteil­nehmer. In ihm glaubte ich, meinen zukünftigen Ehegatten zu erkennen, kaufte ihm Verlobungsringe und ließ ihn in meinem Tagebuch unterschreiben, daß er mich im Fernsehen, bei Linda de Mol’s Traumhochzeit heiraten würde. Er half mir, Shayma und meinem Vater auch bei meinem Umzug in meine erste eigene Wohnung in der Karlstraße und übernachtete dort mit mir. Nach durchwachter Nacht schleppte ich ihn sonntags mit in die Kirche, wo ich ihm simultan und störend laut die ganze Predigt, die natürlich nur für mich zu sein schien, ins Spanische übersetzte. Nach dem Gottesdienst bat ich den Pfarrer, der mich auch konfirmiert hatte, um einen Trau-Termin in zwei Jahren und weckte dann meine völlig perplexe Freundin Geli mittels Sturmklingeln. Sie wurde mit einem Redeschwall überfallen, in dem ich ihr unter anderem meinen neuen Verlobten vorstellte.

 

Mittwochs hielt es mich nicht lange im Unterricht. Ich überredete den Lehrer, mich wegen eines Notfalls in der Familie vorzeitig aus dem Unterricht zu entlassen und verabredete mich, einer meiner plötzlichen Eingebungen folgend, telefonisch mit meiner Cousine Christiane und meinem Cousin Thomas, der wie ich die Bipolarität unserer Großeltern geerbt und außerdem sechs Millionen durchgebracht hat... Er befand sich gerade in einer langanhaltenden depressiven Phase. Weil ich dachte, ich könne ihm helfen und fuhr ich in wilder Raserei erst nach Karlsruhe zu meiner Cousine und ihrer neugeborenen Tochter Helene, der ich meinen Steiff-Maulwurf schenkte. Dieses Plüschtier hatte zuvor einen unschätzbaren Wert für mich gehabt, denn meine Eltern hatten es mir geschenkt, um mich über meinen größten Liebeskummer hinweg zu trösten und so war es persönlicher Glücksbringer geworden.
  Anschließend fuhr ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Schönmünzach in den Schwarzwald. Mein Polo hatte sich für mich in einen Porsche verwandelt und so genoß ich jede Kurve und jede Bergkuppe, ohne mich an Geschwindigkeits­begrenzungen zu halten. Zu meinem Glück wurde ich nicht geblitzt. Überglücklich und völlig außer Atem traf ich ein. Thomas empfing mich, aufgrund seiner Depression nur wenig überrascht, und wir redeten fast die ganze Nacht. Themen, an die ich mich noch vage erinnere, waren unsere Großeltern und andere Gemeinsamkeiten. Dabei leerten wir die riesige Magnumflasche „Fürst von Metternich“, die er zu seiner Großraum-­Fotostudio-Einweihung geschenkt bekommen hatte. Das Fotostudio und all das Geld, was dieses Projekt verschlungen hatte gab es schon nicht mehr.
In meinem Allmachtsgefühl und meinen verirrten Trieben küsste ich ihn sogar, in der Hoffnung ihm so all meine Kraft zu übertragen und aus der Depression reissen zu können. Er ließ mich gewähren, doch mein Experiment gelang nicht. Schließlich zwang er mich, etwas zu schlafen und brachte mich ins Bett, nachdem ich ihm zuvor noch ein paar Geschenke, wie eine große blaue Vase und ein Jagdgewehr aus dem Kreuz geleiert hatte. Nie zuvor hatte ich etwas mit meinem Cousin anfangen können, doch plötzlich erlebte ich ihn wie ein Gottesgeschenk, einen neuen Bruder, und war voller Liebe für ihn.
Nach zwei Stunden Schlaf fuhr ich zurück nach Karlsruhe, wo ich meine (Stief-)Omi Lili besuchte. Gut, daß sie durch ihren Besuch von Tante Christel, der Schwester meines verstorbenen Großvaters, Verstärkung hatte, denn mein Zustand erschreckte die beiden älteren Damen sehr. Auch bei Omi Lili versuchte ich wieder ein paar Geschenke zu ergattern und legte mich noch ein wenig schlafen, bevor ich wieder zurück zum Schulungszentrum fuhr, wo ich schon seit über einen halben Tag vermisst wurde.


Mein Lufthansa-Lehrer kam langsam dahinter, daß mit mir etwas nicht stimmen könnte und meine Mutter, die einen Psychologische-Fachliteratur-Kaufrausch hatte, entdeckte beim Lesen, was es war, das mit mir nicht stimmte. Sie war sehr erschrocken. Meinen Vater mußte sie erst von ihrer schmerzlichen Erkenntnis überzeugen, aber schließlich fanden sie gemeinsam heraus, daß schon seine Mutter diese, mit Manie wechselde, Form der Depression hatte und sein Vater öfter unter Depressionen litt. Da auch meine französische Großmutter mütterlicherseits psychisch krank ist, lag schließlich auf der Hand, was ich da geerbt hatte. Die Lufthansa kündigte mir noch vor Abschluß der Schulung, ich wurde aus dem Schulungszentrum rausgeworfen, erhielt Hausverbot und meine astronomische Telefonrechnung. Weil ich mich nicht daran hielt, sondern stattdessen in Miguel-Angels Zimmer übernachtete, gefährdete ich fast seinen Job, auf den er als Bolivianer aus einer kinderreichen Familie weit mehr angewiesen war, als ich auf meinen.

 

Am nächsten Wochenende holte ich Raphael in Aschaffenburg ab. Wahrscheinlich ist er derjenige, der mit mir die meisten hochmanischen Rauschzustände erleben, bzw. überleben mußte. So ließ ich ihn einmal stundenlang in meinem, in der Feuerwehrzufahrt geparktem, Auto sitzen, während ich ungehemmt fast jeden Laden des Einkaufszentrum leerkaufte. Meine Einkäufe und die zufriedenen VerkäuferInnen hielt ich sogleich mit meiner neu erworbenen Polaroid-Kamera fest. Wenn ich dann, über und über mit Tüten beladen, wieder zum Auto zurückkam, hielt mein verzweifelte Freund Raphael mir jedesmal vorwurfsvoll einen weiteren Strafzettel entgegen. Als mich in diesem Einkaufszentrum zwei Zigeunerinnen ansprachen, versuchte er mich von ihnen fernzuhalten, aber gegen meine Besessenheit kam er nicht an.
Auch eine unnötige Benzinpanne auf der A3 kurz vor dem Rasthof Weisskirchen erlitt er mit mir. Malerisch goß ich mich in roten Hot-Pants und silbernen, schenkelhohen Barbarella­stiefeln wie eine Diva auf den frisch erstandenen Bauernstuhl, den ich vor den prallgefüllten Kofferraum auf den Standstreifen getellt hatte und genoß es von den LKW-Fahrern mit lautem Hupen beachtet zu werden, während Raphael mit meinem leeren Ersatzkanister zur Tankstelle und wieder zurück laufen mußte. Für mich war das alles sehr spaßig. Für ihn überhaupt nicht.


Im Flamencostudio Mannheim hatte inzwischen der Concha-Vargas-Workshop begonnen. Ich war zu zappelig, um mitzutanzen, aber ich versuchte zuzuschauen. Als abends, wie immer alle Kursteilnehmer zusammen essen gingen, lud ich die gesamte Runde zu Sekt ein, um auf meine Wiedergeburt anzustoßen. Nebenbei erklärte ich vor versammelter Mannschaft meiner alten Flamenco­lehrerin den Krieg und empfahl der ehrwürdigen spanischen Zigeunermama Concha, doch mal den Uwe als Liebhaber zu versuchen. Alle waren peinlich berührt.

 

Von den beiden rumänischen Zigeunerinnen, die mich beim Shoppen abgefangen hatten, hoffte ich, sie würden meine Freundinnen werden. Zigeuner hatten, ob ihrer Musik und Exotik und der Herkunft des Flamencos, schon immer eine besondere Anziehungskraft für mich.
Als sie mich im Einkaufszentrum das erste Mal sahen, war es ein leichtes zuerkennen, daß ich zum einen ziemlich durchgeknallt war und zum anderen mein Geld locker sitzen hatte, denn ich trug die den silbernen Barbarellastiefel zu meiner Lufthansauniform und bummelte beladen mit prallgefüllten Tüten und meinem angenervten und überforderten Freund Raphael durch die Läden.  Die beiden Zigeunerinnen, Sabrina hieß die eine, brauchten mir also gar nicht aus der Hand zu lesen. Sie warfen einen Blick auf meine abgenagten Fingernägel und gaben vor, mir von der Stirn zu lesen.
Ich lud sie in ein Cafe ein, wo ich heroisch durchsetzte, daß sie bleiben durften, indem ich den Besitzer lautstark einen Nazi schimpfte. Raphael wollte mich beschützen und zerrte mich aufs Klo, wo er erfolglos versuchte mir die beiden auszureden und schließlich las mir Sabrina meine jüngste depressive Vergangenheit und noch einiges andere von der Stirn ab. Alles stimmte. Für die nahe Zukunft prophezeite sie mir einen schlimmen Streit mit meinem Vater, den ich mir zu dem Zeitpunkt noch überhaupt nicht vorstellen konnte.
Außerdem hatten sie sogleich die Lösung für all meine Probleme parat: Ich sei nicht krank sondern verflucht, und zwar von einer blonden Frau meines Alters, und nun bräuchte ich mich von diesem Fluch nur freizukaufen - und zwar bei ihnen. Erst fiel mir niemand ein, der mir feindselig gesinnt sein könnte, doch dann einigten wir uns auf die blonde Exfreundin meines Exfreundes Dani. Großzügig baten sie mir für ein paar Hunderter ihre Hilfe an und verkauften mir ein kleines magisches Wurzelhölzchen, welches ich fortan mit einem roten Stück stoff, einem Stück Brot und etwas Zucker bei mir tragen sollte. Sogleich jagte ich durch das Einkaufszentrum, kaufte einen frischen Laib Brot, nur um ein Klümpchen Teig aus seiner Mitte zu pulen und den Rest wegzuwerfen, kaufte einen roten Stringtanga, um diesen zu zerfetzen, bettelte beim Italiener um ein Zuckertütchen mit meinem Sternzeichen darauf und kaufte schließlich beim Mexikaner einen sündhaft teuren Ketten­anhänger in Form eines kleinen Fläschchens aus Glas und Silber. Natürlich ließ ich es mir nicht nehmen, dem Bäcker, der Verkäuferin in der Wäscheabteilung, dem Italiener und der Schmuckverkäuferin die ganze Hintergrundgeschichte zu erzählen, schließlich glaubte ich, all diese Menschen bereichern, ihnen gar helfen zu können. Mit den beiden Zigeunerinnen, die ungefähr in meinem Alter waren und meinem fassungslosen, wütend bis resignierten Freund im Schlepptau, zog ich wieder von Geschäft zu Geschäft und kaufte auch reichlich Geschenke für sie und ihre Kinder. Sie freuten sich nicht übermäßig, denn trotz ihrer Abgebrühtheit war ich sogar ihnen ein wenig unheimlich. Wir verabredeten uns für den folgenden Tag bei mir zuhause, denn sie wollten mir, natürlich wieder zu einem stolzen Preis, ein obskures Heilwasser vorbeibringen.
Weil ich mich ausgesperrt hatte, schleifte ich die beiden in die Wohnung meiner vertrauensseligen Nachbarin, bei der ich durch mein kreatives Hüten ihrer Kinder ein Stein im Brett hatte. Die beiden Ganovinnen veranstalteten mit und meinem T-shirt, einem Glas und dem Wasser irgendeinen absonderlichen Trick, so daß es zu mir „sprach“ in dem es kochte und zischte. Trotz Manie war ich skeptisch, doch diese zwei kleinen Hexen beschwörten mich eindringlich und übersetzten des Wasses „Sprache“. Es „nannte“ mir die astronomische Summe, der es bedurfte, um mich von meinem „Fluch“ freizukaufen. Noch bezahlte ich nicht, denn ich wollte mir die Sache erst durch den Kopf gehen lassen. Also fur ich die beiden Zigeunerinnen nach Hause. Sie wohnten in einem berüchtigten und extrem runtergekommenen sozialen Wohn-Hochhaus in Dietzenbach, aber ich hatte keine Angst, mich in dieser gefährlichen Gegend zu bewegen, denn ich hatte mich gekleidet wie sie, und wurde darum auch promt fast aus dem HL geworfen, wo die Zigeuner Hausverbot hatten. Wieder setzte ich mich lautstark zur Wehr indem ich den Geschäftsführer als Nazi beschimpfte. Siegestrunken bezahlte ich meine Einkäufe und verließ erhobenen Hauptes den HL-Markt.

 

Einmal fuhr ich nachts zu meinem Exfreund Dani und zwang ihn zu einem nächtlichen Bad. Widerwillig machte er mit und wir machten per Selbstauslöser ein Foto von uns, wie wir zusammen in seiner Wanne saßen. Am Abschiedstag von Miguel-Angel lud ich ihn und meinen Freund Raphael im Henningerturm zum Essen ein. Das Restaurant gefiel mir, weil es so schön höch lag und sich drehte. Ich bezahlte mit der Visacard meines Vaters, die er mir ein Jahr zuvor für außerordentliche Engpässe und Notfälle hatte machen lassen, also hatte ich sie nie zuvor benutzt. Doch jetzt jagten sich die außerordentlichen Situationen, also schöpfte ich alle meine finanziellen Möglichkeiten hemmungslos aus. Dummerweise hatte mein Vater mir zur Gründung meines ersten eigenen Hausstandes einen Betrag von DM 10.000 angekündigt, den er zuvor über Jahre für mich angespart hatte. Das veranlaßte mich zu glauben, ich wäre steinreich, und mit größter Wonne verhielt ich mich dementsprechend. Die beiden Zigeunerinnen rochen den Braten und boten mir an, mit ihnen eine Wallfahrt nach Landau in die Pfalz zu machen, wo ich in einer Zigeunerkirche all mein Geld zu Füßen ihrer Heiligenfigur legen sollte. Als ich das Geld beschaffen wollte, mußte ich zu meinem Ärger feststellen, daß mein Vater alle Konten hatte sperren lassen.


Da fiel mir Justus Japing ein, ein seinerseits ebenfalls leicht durchgeknallter Frankfurter Mehrfach-Millionär, den ich in meiner Depression gemeinsam mit Shayma kennengelernt hatte, als wir uns Wohnungen anschauten. Er kam als Vermieter für uns nicht in Frage, denn er wollte nur ein Zimmer untervermieten und war zudem noch sehr lüstern. Aber er war tatsächlich steinreich. Also klingelte ich ihn mitten in der Nacht aus dem Bett, und bat ihn, mir Geld zu leihen. Er fragte mich nach Sicherheiten und wozu ich denn so dringend soviel Geld bräuchte. Als ich ihm meine Zigeunergeschichte erzählte, tat er  geistesgegenwärtig das, was meine manische Odyssee schließlich zu einem glimpflichen Ende führte. Er rief Liane Büsing, seine professionelle Wahrsagerin an, und bat sie, sich meiner anzunehmen. Ohne mich zu kennen, war sie trotz der unangemessenen Uhrzeit bereit, mich sofort zu empfangen. Begeistert ließ ich meine Wallfahrt sausen, nahm das Angebot an und machte mich auf nach Sindlingen.
Auf dem Weg suchte ich noch kurz die Polizeiwache in Sachsenhausen auf, und meldete meine Lufthansa-Handtasche als gestohlen. Auf diese Idee hatte mich ebenfalls Justus gebracht, nachdem ich ihm erzählt hatte, was alles passiert war, und daß ich nun die Tasche nicht zurückgeben wolle.

 

Rettung aus der Raserei

Dank Frau Büsings telefonischer Wegbeschreibung, fand ich das Reihenhaus, das sie mit ihrer Familie bewohnte. Allerdings irrte ich mich in der Reihe und fuhr von hinten vor. Da schritt eine in Weiß gekleidete Frau in den Garten und begrüßte mich mit den Worten „Ich habe gewußt, daß Du von hinten kommst, Nathalie...“ Wie in Trance folgte ich ihr ins Wohnzimmer. Ihre Tochter gesellte sich zu uns, und tröstete mich über meine Enttäuschung mit den Zigeunern hinweg.
Frau Büsing legte mir die Karten, las aus dem Kaffesatz, schüttete mein angebliches Heilwasser fort und ließ mich mit ihrem Pfarrer telefonieren, der mich fragte, ob ich denn nicht wisse, daß Gott mich beschützt? Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich fragte mich, wie ich das nur hatte außer Acht lassen können.
Frau Büsing prohezeite mir, daß ich wieder gesund werden würde, eine glückliche Ehe und Reichtum. Sie mußte keine Wahrsagerin sein, um zu wissen, daß meine Eltern außer sich vor Sorge waren, denn sie hatten mich nach dem von Sabrina richtig vorrausgesagten handgreiflichen Streit mit meinem Vater einige Tage lang nicht mehr gesehen und suchten nach mir. Der Anlaß für die gewalttätige Auseinandersetzung mit meinem Vater stand in keiner Relation zur Eskalation des Streites - ich wollte unbedingt die Puppenmöbel, die er mir in meiner Kindheit gebastelt hatte, mit in meine neue Wohnung nehmen, um Pflanzen darauf zu stellen. Frau Büsing rief also gegen drei Uhr nachts meine Eltern an und bat sie, mich abzuholen. Zum Abschied entlockte sie mir das Versprechen, gleich nach dem Osterwochenende mit meiner Mutter den Termin in der Psychiatrie wahrzunehmen, der bereits gemacht war.
Am nächsten Tag mußten meine Eltern ein unangenehmes Frühstück über sich ergehen lassen, denn ich hatte Justus Japing eingeladen, und dieser war undiplomatisch, unverschämt und eine Nummer zu durchgeknallt für den Horizont meiner Eltern. Am Ostersamstag trat ich ohne Unterhose im „Al Andaluz“ auf, und tanzte, dank Manie, für die der Flamenco ja ein geeignetes Forum ist, freier und ergreifender denn je zuvor. Außerdem bearbeitete ich in einer nächtlichen Kunstaktion die Lufthansa-Handtasche mit Farb-Spraydosen und Lackmalstiften.

 

Am Sonntag nahmen mich Uwe und Suse mit nach Freiburg zu einem Auftritt von Concha Vargas. Am Flamenco-Verkaufsstand bestellte ich munter Röcke, Schuhe und CDs in großer Stückzahl und in der Künstlergarderobe versuchte ich Concha Vargas im BH zu fotografieren. Sie floh entsetzt. Wir übernachteten bei Ralf, einem interessanten Freund von Uwe in einem kleinen Schwarzwald-Dorf. Am Ostermontag erwachte ich mit einer Erkältung. Auf der Heimfahrt hielten wir kurz bei Thomas, doch dieser hatte keine Lust mehr auf Besuch. In nächtlichen Fotosessions mit Shayma pornographierten wir uns gegenseiteig und ich verarbeitete meine Lufthansa-Zeit.

Klinkik

Am Mittwoch nach Ostern ging ich schließlich, begleitet von meinen Eltern und Shayma zur Untersuchung in die Uniklinik. Im Wartezimmer der Uniklinik kletterte ich auf alle Stühle, fotografierte die Wände und versuchte ein junges Mädchen zu trösten, dessen Beine bei einem Selbstmordversuch von S-Bahn abgetrennt worden waren. Ich schockierte meine Mutter, weil ich zu dem Mädchen sagte, das wäre doch nicht so schlimm. Der Ärtzin erklärte ich unter anderem, daß sich mein Gehirn von hinten aufrolle und ich sogar fließend Russisch sprechen könne. Frau Dr. Voss überwies mich ins Phillippshospital in Goddelau, Riedstadt. Auf der vierzigminütigen Fahrt dorthin schlief ich fest und meine Eltern weinten. Als wir ankamen, es war ein schöner, sonniger Frühlingstag, setzte ich mich sogleich in die Wiese und begann Gänseblümchenketten zu flechten. Endlich fanden meine Eltern einen Arzt. Er sah die beiden mit ihren geröteten Augen und mich fröhliches Blumenkind an, und fragte, wer denn hier der Patient wäre.
Bei meiner Aufnahme wurde mir noch für den selben Tag ein Gespräch mit dem Stationsarzt versprochen. Das Gespräch fand erst zwei Tage später statt.

 

Man hatte mich also sogleich belogen, meine Vertrauens­seligkeit ausgenutzt und mich bis obenhin mit harten Chemiekeulen wie Ciatyl Z vollgepumpt. Das war, in doppeltem Sinne, die billigste Methode, mich runterzuholen. Als ich Freitags wieder zu mir kam, hatte ich furchtbare Schmerzen, und war durch starke Gesichtskrämpfe entstellt. Meine Mutter kämpfte wie eine Löwin für eine bessere Behandlung ihrer Tochter, sonst wäre mir noch übler mitgespielt worden. Nach einer Woche durfte ich endlich von der gefängnisähnlichen geschlossenen Station in eine offene umziehen. Aber auch hier ließen sich die Fenster nicht öffnen, und man mußte um jeden Ausgang betteln. Wenigstens bekam ich viel Besuch. Jeden Tag kamen meine Familie und meine vielen Freunde. Sie kamen fast alle. Viele kamen mehrmals. Das war schön.


Einmal machte ich heimlich einen Ausflug ins Dorf und ließ mir dort eine Dauerwelle machen. Anstatt zu bezahlen hinterlegte ich meinen Fotoapparat, den meine Mutter später auslösen sollte. Als ich frischgelockt zurückkehrte, waren alle sehr böse mit mir, aber ich lachte in mich hinein, denn mehr noch als die Locken, erfreute mich mein trotziges kleines Autonomiegefühl. Einigermaßen erträglich wurde der stationäre  Aufenthalt in dieser nüchternen Verrückten-Aufbewahrungsanstalt ausschließlich durch meine Manie. So ließ ich mir z.B., anstatt zu Duschen, fast täglich ein Vollbad ein und gestaltete mir das Baden in diesen gefängnisähnlichen Räumlichkeiten immer festlich mit Kerzen, Musik aus meinem Ghettoblaster und Vanille-Badezusatz. Manchmal wurde meine Idylle durch eine laut keifende Frau unter der Dusche im Nebenraum gestört. Ähnlich wurde auch meine Nachtruhe öfter verhindert, denn ich teilte das Zimmer mit einer depressiven Italienerin, die nachts ihr Handgelenk schüttelte und wimmerte, oder aufstand um im Zimmer hin und her zu schlurfen. Wenigstens brauchte sie in ihrem Zustand nichts, also belegte ich alle Stühle, den Tisch und die Wände in unserem Zimmer mit Beschlag.


Die mir zugeteilte Ärztin Frau Dr. Lotz war streng, unsensibel und kalt. Ich fand kein Vertrauen zu ihr und sie fand keinen Zugang zu mir. Meine Mutter und ich nannten sie Frau Rottenmeier, wie die strenge Erzieherin in Hanna Spiri’s (?) „Heidi“. Weil mir die Beschäftigungstherapie immer zu kurz war, machte ich aus meinem Krankenzimmer kurzerhand ein Atelier und beschäftigte mich, wie einst in Kindertagen, die meiste Zeit selbst, indem ich mit den Materialien, die meine Mutter mir jeden Tag mitbrachte, malte oder modellierte.
Die Arbeitstherapie verweigerte ich, denn ich war mir zu teuer, um für einen diskriminierenden Stundenlohn von fünfzig Pfennig Wäscheklammern zusammen zu bauen, oder ähnliche, meinen Intellekt beleidigende Tätigkeiten auszuführen. Stattdessen bestand ich auf Musik- und Tanztherapie. Beides tat mir sehr gut, nur leider erhielt ich davon viel zu wenig. Meine Tanztherapeutin ist der einzige Profi aus dieser Einrichtung, an den ich bis heute dankbar zurückdenke. Sie erkannte die Kraft des Flamenco und sein Potential, mich zu heilen. Wie recht sollte sie behalten. Sie war, außer meiner Familie, meinen Freunden und mir natürlich, auch die einzige, der mein bunt dekoriertes Zimmer gefiel, von Frau Dr. Rotten­meier wurde ich indes nur gescholten.


Über das zweite Wochenende durfte ich zum ersten Mal nachhause.
Am 20. April 1999 begann ich mit der Lithium-Therapie.
Es war ein wunderschöner Frühling und ich ging viel spazieren. Entweder ich machte Gewaltmärsche mit meinen manischen Kollegen durchs Klinikgelände oder ich ging mit meinem Besuch im Naturschutzgebiet Kühkopf spazieren. Auf dem Spielplatz am Wegesrand spielte ich mit meinen beiden einmalig netten Dozenten Ute Osterwalder und Hans Puttnies und manchmal hatte ich dort Sex mit Uwe.

 

An meinem zweiten Wochenende zuhause veranstaltete ich mit Shayma eine gelungene, kleine provisorische Wohnungs-Einweihungsparty. Zwei Wochen später war ich draußen, denn ich hatte auf meine eigene Verantwortung darauf bestanden, am 12. Mai entlassen zu werden. Schließlich wollte ich meinen 23. Geburtstag am 14. Mai „in Freiheit“ feiern. Widerwillig ließ Frau Dr. Rottenmeier mich gehen, und prophezeite mir, daß ich so wahrscheinlich schon bald wiederkäme.
Ich aber wußte, daß ich stark genug war, meinen Weg zu gehen, ohne wieder in der „Klapse“ zu landen und ich behielt recht!

Es folgten, trotz Lithiumprophylaxe, weitere Phasen, aber keine Phase (vielleicht auch dank Lithiumprophylaxe) war je mehr annährend so schlimm und lebensbeeinträchtigend wie mein erster Zyklus, und ich weiß, daß es nie mehr so schlimm werden  wird. Es kostete mich viel Zeit und Arbeit, meinen in der beschriebenen Zeit entstandenen Schock zu verkraften, meine Traumata zu überwinden, meine bipolare Störung anzunehmen und mit ihr zu leben - aber ich habe es bis jetzt geschafft und möchte mein Leben mit niemandem tauschen.

Wenn man mit ihr wächst, dann muß die bipolare Störung kein Fluch sein. Man kann an ihr wachsen.

 

 

Meine Stimmungskurve bis zum 30. Lebensjahr
Meine Stimmungskurve bis zum 30. Lebensjahr

 

 

 

Impressum | Datenschutz | Cookie-Richtlinie | Sitemap
© Blunaland by Nathalie Karg, Bad Homburg